5. - Mein früheres Leben als Zeugin.....




Kein Bild könnte folgenden Text besser betiteln.
Auf dem Weg zum Königreichssaal. Der Motor brummt. Auffordernd. Laut. Viel zu laut.
Mein Stiefvater tritt erbost ins Gaspedal. Der Motor jault herzzerreißend. Wir sind mal wieder viel zu spät dran. Donnerstagabend. Um 19.00 Uhr ist Versammlung.
Auf der Rückbank sitzen zwei Kinder. Mein Bruder schaut apathisch aus dem Fenster des Autos. In seinen Augen spiegelt sich das Leid. Wieder zwei Stunden still sitzen. Dinge hören die ein 6-jähriger nicht versteht und nicht verstehen will. Ich weiß, in Gedanken ist er schon längst wieder Zuhause. Er tüftelt gerade an einer sehr komplizierten Schienenkonstruktion für seine Playmobil-Eisenbahn. Meine Mutter hat ihn an einem Ohr davon weggezerrt, weil er sich nicht für die Zusammenkunft fertigmachen wollte. Auch ich stieg an diesem Abend nur widerwillig in meinen Rock. Im Winter war das Umziehen für die Versammlung immer besonders grausam. Wie hasste ich es mich in dicke Strumpfhose zu quälen, dann noch ein spießiger Rock drüber. Ein dicker Pullover in dem ich nachher in der Versammlung wieder gnadenlos schwitzen würde. Ich hatte meine Bibel vergessen. Ich wusste schon mit welchen Blicken ich wieder bedacht werden würde, wenn ich zwangsweise in die Bibel meines Stiefvaters gucken musste. Heute war auch schriftliche Wiederholung. Da wurde der Stoff der letzten 8 Wochen durchgenommen, anhand von Fragen, die ganz in Lehrermanie gestellt,beantwortet wurden. Ich hielt den Fetzen wie eine tote Ratte in der Hand. Darauf hatte ich mich auch nicht vorbereitet. Wie denn?
Ich hatte Schule und musste heute in gefühlt einer halben Stunde den Stoff einpauken den ich morgen für die Klassenarbeit brauchte. Ich musste schnell machen. Damit wir die Versammlung nicht verpassen. Das einzige das mir an diesem Tag eine Insel der Ruhe verschaffte, war die Musik meines Mp3-Players die in meine Ohren schallte.
"Baby boy you stay on my mind
Fulfill my fantasies
I think about you all the time
I see you in my dreams"

Quäkte Beyonce mir ins Ohr. Verbotene Musik. Sie sang darüber einen Mann zu begehren. Bestimmt einen Mann zu begehren mit dem sie nicht verheiratet war. Mir war das egal. Ich wippte im Takt zu dem orientalisch angehauchten Rhytmus. Ich muss wohl gegrinst haben. Meine Mutter dreht sich energisch um sagt mit hysterischer Stimme:
Musst du diese unchristliche Musik JETZT hören?!
Ich reagierte nicht. Tat ich nie. Meine Mutter bestarrte mich argwöhnisch vom Vordersitz aus. Ich entglitt ihr. Das merkte sie. Halb zu sich selbst sagend murmelte sie: Du und deine Summ-Summ-Musik, die macht dich dumm.
Die letzte Ampel vor dem Saal. Und ja ich wünschte mir die Strecke wäre doppelt so lang. Wir stiegen aus. Meine Eltern warfen sich noch einen letzten giftigen, von Hass geprägten Blick zu, bevor wir unsere Masken aufzogen.
Strahlend betraten wir den Saal. Und ein Strahlen erwiderte unseren Blick. Wir waren wie gesagt spät dran und drängten uns auf die letzten freien Plätze. Schnell noch ein paar halbherzige Umarmungen. Dann ging es los.
Das Klimpern der Klaviermusik ging los. Unsere Kehlen zu einem gewaltigen AAAAAAH gespannt wollte die Versammlung loskreischen. Das falsche Lied. Bruder Schmidt* hatte wieder mal das falsche Lied angemacht. Wieso durfte er immer noch die Technik bedienen? Man müsste ihn dringend durch einen jüngeren Bruder ablösen. Ich erschrak wie abschätzig ich über so eine Lappalie dachte. Dann das richtige Lied. Mein Lieblingslied. Lied 169.
"Zu jeder Zeit, wünsch ich in Ewigkeit zu wandeln frohbereit in deiner Lauterkeit"
Ich sang inbrünstig mit. Singen befreit die Seele. Stimmt. "Alle meine Entchen schwimmen auf dem See" hätts auch getan.
Dann das Gebet. Während des Gebets hob ich den Kopf und beobachtete die Menschen um mich herum. Wie sie mit zugekniffenen Augen und spastisch verrenkten Händen, Gott anbeteten. Manchmal traf mein Blick den Blick anderer Brüder die ebenfalls neugierig in der Gegend rumguckten anstatt zu beten.
AAAAAAAAAAAAMMMMMMMMMMMMEEEEEEEEEEEEEEEN!!!!
Das Brüllen des weltweit genutzten Abschlusswortes, erschütterte den Saal. Das war ein Automatismus. Meine Lippen bewegten sich automatisch. Unter Keuchen und Stöhnen schmiss ich mich auf den Stuhl. Wann war dieser verfluchte Tag endlich zu Ende?
Die letzten Backpfeifen für die Kinder wurden verteilt. Das ein oder andere schreiende Kind wurde am Schlapfittchen in den zweiten Raum gezerrt. Mein Bruder guckte ihnen hinterher, wie ein alter weiser Mann, der bereits weiß was ihnen blüht.
Bruder Müller* betritt die Bühne. Mein Lieblingsältester. Der Einzige bei dem ich mich ausweinen konnte ohne das ich verurteilt wurde. Er begann mit dem ersten Vortrag.
"Jehova immer den Vorrang geben"
Ich war müde. Verdammt. Ich will schlafen verdammt. Mein Bruder malte. Kinder dürfen malen. Damit sie ruhig sind. Oh, ich wünschte ich dürfte jetzt auch malen. Verdammt. Aber mit 16 Jahren hatte man ja Zeugen Jehovasisch erwachsen zu sein und schön zuzuhören und mitzuschreiben. Man. Ich betrachtete die Zeichnung meines Bruders. Ein Haus. Davor viele Menschen. Ich verdrehte die Augen. Ganz gehirngewaschen würde er jetzt bestimmt den Königreichssaal malen. Aufeinmal hatten die Menschen Pistolen in der Hand und durch roten Stift floss Blut aus dem gemalten Haus. Mein Vater sah das. Riss ihm das Papier aus der Hand und zerknüllte es geräuschvoll. "Schämst du dich nicht?" raunte er ihm zu "Jehova schämt sich für dich" Mein Bruder zuckte nur zusammen und zog es vor unverfängliche Motive aufs Papier zu bringen. Er wollte wohl nicht in den zweiten Raum. Ich auch nicht. Jedenfalls nicht mit meinen Eltern. Wie oft habe auch eine Ohrfeige kassiert, weil ich nicht lieb war. Weil ich nicht ruhig war. Mit diesem Szenario ging der erste Vortrag zu Ende. Ich hab nichts mitbekommen. Das war mir egal. Ich wollte einfach nur schlafen, verdammt.
Dann die Bibellesung. Ich blätterte gelangweilt in der Bibel meines Stiefvaters herum. Mein Bruder hatte es mittlerweile doch in den zweiten Raum geschafft. Ich musste das ausblenden.
Ich konnte das ausblenden.
Ein stotternder Bruder las einen Text vor den selbst mein Bruder besser gelesen hätte.
Bruder Petersen beurteilte ihn am Schluss mit Worten wie: Gute Betonung, gute Pausentechnik..bla bla....einfach nur schlecht, dachte ich.
Ich kicherte. Bruder Petersen verließ die Bühne. Verdammt, wieder nicht nicht zugehört.
Ich will schlafen.
Halb dämmernd zogen die Programmpunkte an mir vorbei. Endlich. Das letzte Lied. Endlich.
Nachdem die gesamte Versammlung ihr willenloses AAAAAAAAAAAAAAMMMMMEEEEEEEEEN gebrüllt und gekreischt hatte, ging ein erleichtertes Raunen durch die Menge. Nicht nur ich schien erleichtert zu sein, das es vorbei war. Ein Mädchen schlich sich aus dem zweiten Raum. ich wusste das sie ausgeschlossen war und ich nicht mit ihr reden durfte. Sie musste etwas schlimmes getan haben. Nein, sagte ich zu mir...ich wollte nie etwas Schlimmes tun.
Meine Eltern gingen mit angespannten Grinsen durch die Menge. Sie konnten es kaum erwarten, nachher im Auto wieder übereinander herzufallen. Ich wollte nicht nach Hause, ich wollte nicht hierbleiben. Wohin mit mir?
Ich stand abseits. Und beobachtete die Brüder, wie sie völlig überzogen grinsend, übereinander herfielen und sich mit Liebe beschütteten.
"OOOOOOOOH...MIIIIRIAAAAAAM...WIE SCHÖÖÖÖHÖÖÖN DU WIEDER AUSSIEHST!!!!" " OOOOOOOH ICH HABE HEUTE EINE BESONDERS SCHÖÖÖÖHÖÖÖÖÖNE ERFAHRUNG IM PREDIGTDIENST GEMACHT!!!!!!"
Wieso fühlte ich es nicht? Fragte ich mich, als ich endlich im Bett lag. Ich war wohl kein guter Diener für Gott ich war wohl nicht gut genug für ihn. Ich hatte seine Liebe offenbar nicht verdient.
Ich drückte mein Kissen ans Ohr. Meine Eltern keiften sich wieder im Flur an. "DU WICHSER!!!!" schreit meine Mutter. "BLÖDE KUH"...recht abgehackt klingt die Konter meines Vaters. "VERSCHWINDE!!!! STIRB ENDLICH!!!!!!" Meine Mutter.
Ich machte es wohl falsch. Jehova liebt mich nicht.
Unter Weinkrämpfen schlafe ich ein.



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