2. - "Ich liebe es Kuchen zu backen, und übrigens ich bin eine Zeugin Jehovas"




Dieser Satz ließ mich schlagartig aufschrecken, als ich wie immer, depressiv in der Krisenintervention rumhing. Mein Käppi schräg auf den Kopf und die Fluppe locker zwischen meinen Zähnen. Aus der Küche drang dieses unnatürliche, aufdringliche Gelächter das ich doch irgendwo her kannte. Als ich mich unauffällig in die Tür stellte um zu sehen welcher Geist meiner Vergangenheit mich da heimgesucht hatte, sah ich sie. Jehova-Mädchen. Fast liebevoll machte sich dieser Gedanke in meinem Kopf breit. Ein bebrilltes, braunäugiges Mauerblümchen stand dort in der Küche und erzählte mit dieser herrlichen Impulsivität von ihrem Glauben, von ihren Vorstellungen und diese glänzende, reine Naivität blitze in ihren Augen als sie vom Paradies erzählte. Und die mich für einen kurzen Augenblick an ihren Lippen hängen ließen. Doch der Ort bzw. der Umstand das sie sich in einer Kriseneinrichtung befand, machte mich stutzig. War sie etwa nicht glücklich? Ich fühlte Wut aufkeimen und schon wieder machte sich Hass und Unbehagen in meinem Herzen breit. Das ihre Freunde, Zeugen Jehovas, sie in der Klinik besuchten gab mir den letzten Stoß.
Wie oft stand ich draußen und hing dem Tagtraum nach ein bekanntes Gesicht könnte sich jetzt auf den Weg ins Krankenhaus machen um mir zu sagen, das es mich liebt. Das ich vermisst werde. Als wir abends im Gruppenraum saßen und ich ihre Geschichte hörte, die traurig war und doch von Zuversicht und Hoffnung sprach perlten meine Tränen an der Innenseite meiner Wangen entlang. Und auch ihre Maske war unverrückt und versteinert als sie von ihren dissoziativen Zuständen sprach. Ich sah sie und sah mich. Als ich mir jede Art von Trauer und Unwohlsein verschwieg und verdrängte. Ich beschloss das gespräch zu suchen. Ich verschwieg ihr das ich offziell kein Mitglied mehr war. Erzählte ihr von meiner Kindheit und wie ich mit diesem Glauben fühlte. Als sie mich in ihre warmen Arme schloss, wollte ich weinen. Nach so langer Zeit sollte mir mein Agressor Liebe zeigen, das Verständnis das ich so lange suchte und begehrte. Doch an mir nagte das sie nicht die Wahrheit wusste. Ich sprach mit meinen Therapeuten drüber. "Frau Alten, das ist ihre Chance! Nutzen Sie sie!" Konfrontation also.
Es war quälend morgens in den Arm genommen zu werden. Sie sprach mit mir als wäre ich ein Mensch und kein von Boshaftigkeit durchtriebenes Ding, das es sich zum Ziel auserkoren hat Menschen von ihrem Glauben abzubringen. Also setzte ich mich abends zu ihr, nahm ihre Hand und sagte etwas das dem einen oder anderen Leser ziemlich dumm erscheinen wird. Ich sah sie an und fragte: Beantworte mir eine elementare Frage. Bist du glücklich? Für zwei Sekunden entglitt ihre Maske und ich sah das Mädchen das sich sorgfältig dahinter verborgen hatte. "Ja." Der Wachtturmroboter hatte gesprochen und ich ärgerte mich über meine dumme Frage, denn damals hätte ich nichts anderes geantwortet. "Aber es war nicht immer so, ich bin zwei Jahre nicht in die Versammlung gegangen und habe wohl alles gemacht was man in der Welt so machen kann." Ich musste leicht schmunzeln, sie erwiderte und sagte: Naja, außer mit einem mann zu schlafen. Wir mussten beide lachen. Und schon wieder sagte ich etwas das meinem werten Leser wohl sehr dumm erscheinen muss: "Ich habe eines gelernt im Leben. Egal welchen Weg du gehst, beide sind schwer. Satan behängt dich nicht Gold und Rubinen wenn du draußen bist. Dir passiert genauso viel Glück und Unglück wie es dir als Zeuge Jehovas geschieht, nur das du verrückt wirst über die Frage weshalb es dir geschieht, während man als Zeuge ein einfaches Schema hat, mit dem man es erklären kann." Das Jehova-Mädchen schaute mich nachdenklich an. "Das stimmt." Eine einfache Bestätigung. Doch ihr Blick wirkte gequält und ich wollte ihr das nicht antun. "Gute Nacht." "Gute nacht....ich hab dich lieb" Ihre Worte. Und sie brannten in meinem Herzen als ich mich in das quietschende Krankenhaus bettete.
Am nächsten Abend spielte ich mit meinen jungen Mitpatienten ein Brettspiel. Typisch adoleszent. Vulgäre und zweideutige Sprüche wurden über den Tisch geworfen wie ein Ping-Pong-Ball. Und ich fühlte mich wohl. Merkwürdig. Ich fühlte mich wie ein DJ der mit zwei Händen, zwei verschiedene Turntables hin und her bewegte. Da gab es die weltliche Chantal, die flirtet, modebewusst ist, gerne feiern geht, von Sex spricht und über schmutzige Witze lacht. Und da gab es Chantal. Ein Jehova-Mädchen, das nachts allein zu Gott sprach um Vergebung winselte, neidvoll auf andere Zeugen Jehovas schaute, sich nach Spiritualität sehnte und abends in der Bibel las.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich sie. Wie sie still in ihrer Ecke las und bei dem einen oder anderen versauten Witz verstohlen mitgrinste. Doch sie machte keinerlei Anstalten sich uns zu nähern. Natürlich. Wir waren auch wirklich kein guter Umgang aus ihrer Sicht. Und ich sah wieder mich. Wie ich mich selbst zum Außenseiter machte, gefallen und doch anders sein wollte. Und schon wieder suchte ich ihre Nähe. Die anderen schauten mich dumm an. "Was willt du denn immer von der??" sagte Becci,meine Bettnachbarin, etwas zickig. Man sah ihre Piercing Male, ihre an den Seiten ausrasierte wilddurchblondierten Haare. Sie schaute immer etwas grimmig doch war sie ein liebes, warmherziges Mädchen. "Punk!!!" bellte einer der Jungs. "Nein! Emo!" sagte ein anderer. Und es war ein befreiendes Gefühl Menschen nicht mehr nach ihrem Äußeren beurteilen zu müssen. "Ich geh nur auf die Toilette," log ich. Und huschte hinter diesem zweispältigen Mädchen hinterher. "Darf ich bei dir sitzen?" wie ein kleines Kind suchte ich Nähe. "Klar, was hast du denn?" "Gar nix, ich will einfach neben dir sitzen"...sie breitete ihre Arme aus und ich stürtzte mich hinein, wie ein verlorenes Kind. So saßen wir und während sie meinen Kopf streichelte, brach es aus mir heraus. Und meine Tränen benetzten ihre hochgeschlossene Bluse. Klugerweise kommentierte sie mein Weinen nicht. Es hätte alles zerstört und die Worte die so bleiern in meinem Herzen hingen flossen in Form von Tränen aus mir heraus. Endlich. Nach eineinhalb Jahren gespielter Coolness, war sie wieder da. Als die Krankenschwester ins Zimmer kam, sah sie zwei Jehova-Mädchen die sich weinend in Armen lagen. Für diesen Abend war ich wieder eine Zeugin Jehovas. Ich zeigte auf ihre Studienbibel die auf ihrem Nachttisch lag. "Liest du mir was daraus vor?" Und sie las. Und ich hing an ihren Lippen und saugte jedes Wort aus ihrem Mund auf. Es war magisch, als sie die Bibel zuklappte und sagte: Jehova wird sich sicher etwas dabei gedacht haben." Und ja. Ich wollte glauben, ich wollte einer Illusion lauschen, die die Welt so schön machte und viel weniger kompliziert als sie in Wirklichkeit war.
Doch riss ich mich selbst heraus, denn in mir dämmerte die alte Angst. Die Angst vor Unvollkommenheit und Harmageddon, vor den Ältesten, vor diesem unheimlich anmutenden System, das sich vor Gott stellte, wie eine undurchdringliche Mauer. Als ich aufstand fiel meine Zigarettenschachtel auf den Boden. Das Jehova-Mädchen bückte sich und gab sie mir wortlos. Und ja ich schämte mich. Ich schämte mich vor ihr. Für meinen stillosen Lebenswandel und für jedes Gramm Mariuhana das konsumiert hatte. Ich schämte mich für meine vulgäre Art über Sex reden, für alles. Ich war eine Weltliche. Und sie war alles was ich 20 Jahre lang sein wollte. Sie sah mein Unbehagen und schloss mich erneut in ihre Arme, doch die Scham verhinderte das ich diese lange zuließ. Halb von mir wegstoßend verabschiedete ich mich für diese Nacht.
Am nächsten Abend, der Abend bevor sie entlassen wurde, drückte sie mir ein Paket in die Hand. Und darin war was ich vermutet hatte. Berge von Literatur und eine Bibel. Und einen Brief. Den ich aufheben werde bis an mein motherfucking Totenbett. Liebevoll schrieb sie, das sie weiß wie ich mich fühle und das ich in ihren Augen immer noch eine Schwester sei. das brach mein Herz vollends. Ich nahm die Bibel und schleuderte sie an die Wand. Und dieser leise, erstickte Schrei den ich seit dem 18. März 2012 (der Tag an dem ich zum ersten Mal ins Krankenhaus kam)nicht mehr hörte, rang sich erneut meine Kehle hoch. Und ich heulte. Nicht dieses sexy Heulen. Wo die Augen verschmiert sind und ein stilles Naserümpfen das Höchste der Gefühle sind. Ich heulte in 10 Oktaven. Und trat gegen die Nachtschränke. Ich nahm die Bibel und warf sie erneut, erneut, erneut und erneut. Ich nenne es Seelenheulen. Wenn dein Unterbewusstsein weint. Wenn ich so weine, dann weine nicht ich, sondern etwas anderes, tief in mir verborgenes. Das ich nicht kenne und nicht kennen will. Taschi, meine andere Bettnachbarin stürmte ins Zimmer und hielt mich an den Schulter fest. Und endlich konnte ich Worte finden. "Weiißt du eigentlich, das es die anderen sein sollten, die mir so einen Brief schreiben!!!!" Meine Stimme klang wie die eines pubertierenden Jungen. Immer noch 10 Oktaven. "Warum sie!!!!!" Taschi schaute mich leicht erschrocken an. "Soll ich die Nachtschwester holen?" "Neeeein!!!! Warum sie!!! Sie kennt mich nicht und ist so lieb zu mir!!!!" Taschi sah die Lektüre auf dem Bett liegen. Sie nahm einen der Wachttümer und zerrte mich vor die Tür.
Die kalte Luft tat gut während sich der Wachtturm in flackerndes Licht auflöste. Und kein Blitz traf uns als wir den Wachtturm verbrannten. Als ob ein Albtraum verbrennt. Wir löschten den Brand mit dem letzten Schnee. "Besser?" Taschi hielt mich im Arm. "Besser". Erschöpft fiel ich in den Schlaf und träumte wie ich in einem warmen Magmasee schwimme. Der sich wie Pudding anfühlte während um mich herum Leute starben und qualvoll verbrannten , während ich unversehrt blieb.
Am Tag ihrer Entlassung kam ich in ihr Zimmer. Und sagte ihr das ich ausgeschlossen bin. Jetzt würde sich zeigen was hinter der Fassade aus Freundlichkeit und Liebe versteckte. Immerhin hatte ich sie bewusst angelogen um in ihrer Nähe sein zu können. Sie starrte mich an stand wortlos auf und im Glauben das sie den Raum nun verlassen würde drehte ich mich zum Fenster. Doch sie nahm meine Hand und nahm ich in den Arm. "Ich stand auch kurz davor", flüsterte sie in mein Ohr, "aber die Ältesten waren anscheinend zu blöd dafür" "Was hast du ausgefressen?" "Vier Jahre Pornographie" Ich stand da wie vom Donner gerührt. Dieses Mädchen, mit ihrer keuschen Bluse, ihrem Strickjäckchen und ihrer Brille soll sich nachts in ihrer Sexualität vergraben haben? So wie ich? Ein Film nach dem andern. Heimlich, reuelos und dann nach erlebtem Orgasmus reuevoll weinend? "Tja. Das hast du bestimmt nicht erwartet?" "Ähm...ja...ich bin echt überrascht," stotterte ich. "Ruf mich an. Bitte." Ihr Blick war leicht kühl, irgendwie schien sie vor meiner merkwürdigen, Liebe-und Hasszerissenen Art zu kapitulieren. "Du weißt das ich das nicht mache. Ich wil dich nicht in Schwierigkeiten bringen." "Ruf mich einfach an. Ob ich rangehe oder nicht kannst du meinem Gewissen überlassen" Wir umarmten uns. Und ich wusste das wir uns nie wieder sehen werden. Sie wusste es und ich sah es in ihrem Blick. Doch sah ich weder Hass oder Entsetzen in ihrem Blick. Wir umarmten uns erneut. "Pass auf dich auf", flüsterte ich in ihr Ohr. "Du auch".....Sie entschwand.
Aus meinem Leben. Und doch werde ich diese merkwürdige Begegnung nie vergessen. Und sie bestimmt auch nicht.
Als ihre Freunde sie in ihre Arme schlossen, war sie wieder völlig in ihrem Element und hätte man nicht gewusst das sie aus einer Krisenstation abgeholt wurde, hätte man ihr nie angesehen das es auch nur ansatzweise ein Problem gab. Ich tippte mein Käppi an. Ein letzter Gruß. Ein letztes Lächeln.
Machs gut.
Jehova-Mädchen.




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